Artikel-Informationen
erstellt am:
23.11.2009
zuletzt aktualisiert am:
17.05.2010
Es zählt zu den Usancen der Niedersächsischen Verwaltungsblätter, dass sich die Herausgeber, der Beirat und die Redaktion alle zwei Jahre zu einer gemeinsamen Sitzung treffen und bei dieser Gelegenheit eine niedersächsische "Einrichtung" näher kennenlernen. Gastgeber solcher Zusammenkünfte sind bereits der Niedersächsische Landkreistag, das Landeskirchenamt, der Sparkassenverband und die Norddeutsche Landesbank gewesen. In diesem Jahr kommt dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof die Gastgeberrolle zu und ich darf Sie hier im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Bückeburg herzlich willkommen heißen.
Bückeburg ist der Sitz des Staatsgerichtshofs, wie es Art. 55 der Niedersächsischen Verfassung ausdrücklich bestimmt. Die Geschäftsstelle des Staatsgerichtshofs ist zugleich die Geschäftsstelle des Landgerichts, das somit nicht nur räumlich, sondern auch personell eng miteinander verbunden ist. Seit einem Jahr verfügt der Staatsgerichtshof über eine eigene Raumkonfiguration in diesem Hause, die in einem Festakt in Anwesenheit des niedersächsischen Ministerpräsidenten und des Landtagspräsidenten eingeweiht worden ist und in die ich Sie im Anschluss an dieses Gespräch zu einem Imbiss einladen darf.
Der Staatsgerichtshof ist Gericht und Verfassungsorgan. § 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof ist insofern wortgleich mit § 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, dessen Verfassungsorganqualität unbestritten ist und bei vielfältigen öffentlichen Anlässen nach außen in Erscheinung tritt. Der Staatsgerichtshof wirkte demgegenüber eher im Verborgenen, so dass seine Existenz nicht allgemein bekannt war.
Haushaltsrechtlich äußert sich die Verfassungsorganqualität darin, dass der Staatsgerichtshof über einen Einzelplan verfügt und der Präsident diesen im Haushaltsausschuss begründet. Der Staatsgerichtshof ist demgemäß keinem Ressort zugeordnet – auch nicht dem Justizministerium -, was sich in dem Schriftverkehr mit den Ministerien und anderen Dienststellen des Landes auswirkt. Neben dem Niedersächsischen Landtag und der Landesregierung stellt der Staatsgerichtshof damit das dritte Verfassungsorgan dar.
Der Staatsgerichtshof setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen, von denen fünf auch dem Herausgebergremium der Niedersächsischen Verwaltungsblätter angehören, so dass er heute – wie ich sagen muss – fast beschlussfähig wäre, denn die Beschlussfähigkeit liegt bei sieben Mitgliedern. Dem Staatsgerichtshof gehören überdies neun stellvertretende Mitglieder an, die jeweils einem Mitglied als persönliche Stellvertreter zugeordnet sind. Der Vertretungsfall tritt ein, wenn ein Mitglied verhindert ist. Dies kann auch der Fall sein, wenn ein Mitglied vom Richteramt ausgeschlossen ist oder die Besorgnis der Befangenheit besteht. In diesem Fall tritt das stellvertretende Mitglied an die Stelle des Mitglieds. Allerdings kann ein solcher Vertretungsfall nicht eintreten, nachdem bereits in der Sache beraten worden ist. Der Staatsgerichtshof verfährt hier entsprechend den Regeln des Bundesverfassungsgerichts.
Auch im Übrigen ist das Verfahren weitgehend dem des Bundesverfassungsgerichts nachgebildet, wofür schon der Umstand spricht, dass das Gesetz über den Staatsgerichtshof auf eine Vielzahl der Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes verweist. Bekanntlich sind die Mitglieder des Staatsgerichtshofs ehrenamtlich tätig. Dies gilt im Übrigen auch für alle anderen Landesverfassungsgerichte. Die Mitglieder des Staatsgerichtshofs werden auf sieben Jahre gewählt, wobei die Wiederwahl nur einmal zulässig ist. Die frühere Bestimmung, dass Berufsrichter für die Dauer ihres Hauptamtes gewählt werden, ist weggefallen. Die Mitglieder des Staatsgerichtshofs dürfen beruflich weder im Dienst des Landes noch einer Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts unter Aufsicht des Landes stehen. Hiervon ausgenommen ist lediglich der Dienst als Berufsrichter oder Hochschullehrer. Gegenwärtig setzt sich der Staatsgerichtshof aus sechs Berufsrichtern, zwei Hochschullehrern und einer Rechtsanwältin zusammen. Sämtliche Mitglieder verfügen über die Befähigung zum Richteramt, was nach der gesetzlichen Regelung nur bei sechs Mitgliedern der Fall sein müsste. Frauen und Männer sollen jeweils mindestens drei Mitglieder stellen. Dieses Quorum wird gegenwärtig erreicht, denn der Staatsgerichtshof besteht zu einem Drittel aus Frauen und zu zwei Dritteln aus Männern.
Der Staatsgerichtshof entscheidet – wie jedes Gericht – nur auf Antrag. Über die Verfahrensarten im Einzelnen werde ich im Anschluss berichten. An dieser Stelle sei ein kurzer Überblick über die Stationen eines Verfahrens gegeben. Nach Eingang eines Antrags wird den Äußerungsberechtigten – regelmäßig dem Landtag und der Landesregierung –, selbstverständlich aber den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Innerhalb des Gerichts gibt es keine Geschäftsverteilung, was bereits durch die geringe Anzahl der Verfahren bedingt ist. Für jedes einzelne Verfahren werden ein Berichterstatter und ein Mitberichterstatter bestellt, die entsprechende Voten vorbereiten. Ihnen kann ein Mitarbeiter zugeordnet werden, der sie bei der Materialsammlung und Abfassung des Votums unterstützt. Hierfür werden regelmäßig Richter, die im Landesdienst stehen, herangezogen und für einen begrenzten Zeitraum an den Staatsgerichtshof abgeordnet. Nach Fertigstellung der Voten trifft sich der Staatsgerichtshof zu einer Vorberatung, die gleichzeitig der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung dient. Entgegen der Verfahrenspraxis des Bundesverfassungsgerichts bildet die mündliche Verhandlung den Regelfall, der Verfahrensabschluss durch Beschluss die Ausnahme. Zur mündlichen Verhandlung werden die Beteiligten, aber auch – soweit erforderlich – sachkundige Personen geladen. Der Staatsgerichtshof hat sich hier der Verfahrenspraxis des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen, das sogenannten "sachkundigen Dritten" Gelegenheit zur Äußerung gibt. Diese vom Staatsgerichtshof erstmals im Verfahren über das Maßregelvollzugsgesetz und das Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker geübte Verfahren wird demnächst seinen Niederschlag im Gesetz über den Staatsgerichtshof finden.
Nach Abschluss der mündlichen Verhandlung berät der Staatsgerichtshof über die Entscheidung, die in der Folgezeit von den Berichterstattern vorbereitet wird. Im Gegensatz zur ordentlichen Gerichtsbarkeit und zur Verwaltungsgerichtsbarkeit wird also am Ende der mündlichen Verhandlung kein Urteil verkündet.
Über den Urteilsentwurf, den die Berichterstatter vorlegen, findet eine besondere "Leseberatung" statt, in die nach Einigung über den Tenor sämtliche Mitglieder ihre Vorschläge einbringen. Die schließlich beschlossene Urteilsbegründung ist also ein Gemeinschaftswerk aller Richter. Die Geschäftsordnung schreibt vor, dass jedes Mitglied des Staatsgerichtshofs eine Fortsetzung der Beratung verlangen kann, solange es die Entscheidung nicht unterschrieben hat. Auch nach der Leseberatung ergehen noch Änderungsvorschläge, so dass der Beratungsprozess tatsächlich erst in dem Augenblick abgeschlossen ist, in dem die letzte Unterschrift vorliegt. In aller Regel werden die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs verkündet, wobei die Geschäftsordnung für den Verkündungstermin nur die Anwesenheit von drei Mitgliedern des Staatsgerichtshofs vorschreibt. Es entspricht allerdings den Usancen des Gerichts, dass sämtliche Mitglieder beim Verkündungstermin anwesend sind.
Zu Beginn der Verkündung wird die Entscheidung in vollem Wortlaut ins Internet gestellt und steht somit allen Interessierten zur Verfügung. Die Beteiligten erhalten eine Ausfertigung der Entscheidung noch im Verkündungstermin.
Ich habe bereits erwähnt, dass aus der Gerichtsqualität folgt, dass der Staatsgerichtshof nur auf Antrag tätig wird. Der Zugang zum Gericht ist allerdings – anders als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit – nicht durch eine Generalklausel eröffnet, sondern durch einzelne Verfahrensarten bestimmt. Die Niedersächsische Verfassung von 1993 hat den üblichen Kanon der Staatsgerichtshöfe – Normenkontrollverfahren, Organstreitigkeiten und Ähnliches – durch die kommunale Verfassungsbeschwerde erweitert, die dem Staatsgerichtshof einen nicht unerheblichen Zuwachs an Verfahren beschert hat. Im Rückblick auf die vergangenen 15 Jahre seiner Rechtsprechungstätigkeit lässt sich unschwer resümieren, dass die kommunalen Verfassungsbeschwerden den Schwerpunkt der Rechtsprechungstätigkeit bilden. Insbesondere ist der kommunale Finanzausgleich Gegenstand von Verfassungsbeschwerdeverfahren gewesen. Auch gegenwärtig ist ein solches Verfahren anhängig.
Im Gegensatz zu anderen Bundesländern kennt Niedersachsen bislang nicht die Individualverfassungsbeschwerde, also die Beschwerde natürlicher Personen wegen Verletzung ihrer Grundrechte. Die Niedersächsische Verfassung von 1993 hat zwar die Grundrechte des Grundgesetzes inkorporiert – mit anderen Worten gelten sämtliche Grundrechte des Grundgesetzes auch als niedersächsisches Verfassungsrecht –, so dass der Einführung einer Verfassungsbeschwerde jedenfalls keine grundsätzlichen Bedenken entgegengestanden haben würden. Der Verfassungsgeber hat gleichwohl auf diese Verfahrensart verzichtet. Die Diskussion über die Einführung einer Landesverfassungsbeschwerde ist insofern allein rechtspolitischer Natur. Ich selbst trete seit langem – auch schon vor Übernahme meines Amtes – für die Einführung eines ebenenspezifischen Grundrechtsschutzes ein; am Gericht selbst sind die Meinungen hierüber unterschiedlich. Der Ministerpräsident hat bei einem Besuch des Staatsgerichtshofs Ende 2008 erklärt, dass die Landesregierung im Hinblick auf die Einführung einer Individualverfassungsbeschwerde keine Initiative ergreifen würde.
Der Staatsgerichtshof ist – das sei colorandi causa erwähnt – nicht nur Adressat von Anträgen in von der Verfassung vorgesehenen Verfahrensarten, sondern erhält täglich Eingaben verschiedener Art. Zu manchen Absendern haben sich mittlerweile geradezu Brieffreundschaften entwickelt, wobei meine Antwort allerdings ziemlich stereotyp lauten muss, dass der Staatsgerichtshof keine Entscheidungszuständigkeit besitzt.
Lassen Sie mich am Ende meines Berichts ein kurzes Resümee versuchen. Der Staatsgerichtshof hat sich im Laufe von über 50 Jahren in Niedersachsen als unentbehrlich für die Verfassungsfortbildung erwiesen. Er ist – im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht – kein Machtfaktor, kein Akteur im politischen Kalkül, mit dem man von vornherein rechnen müsste. Er ist unübersehbar aber ein Integrationsfaktor, der in seiner Rechtsprechung stets zum Ausgleich zwischen den politischen Kräften beigetragen hat. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Land und kommunalen Gebietskörperschaften. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs zur Kreisgebietsreform vom 14. Februar 1979, die den gesamten zweiten Entscheidungsband mit nicht weniger als 294 Seiten umfasst, darf noch heute als beispielhaft angesehen werden und hat weit über das Land Niedersachsen hinaus gewirkt. Andere Entscheidungen sind von ähnlich weittragender Bedeutung gewesen, insbesondere diejenigen zum kommunalen Finanzausgleich. Naturgemäß sind nicht alle Beteiligten jedes Mal mit dem Ausgang des Verfahrens zufrieden; dies liegt in der Natur eines Rechtsstreits. Allerdings kann der Staatsgerichtshof für sich in Anspruch nehmen, die bei ihm eingehenden Anträge mit großer Sorgfalt zu behandeln und erst nach eingehender – häufig kontroverser – Diskussion zu entscheiden.
Ein Wort des Dankes möchte ich an dieser Stelle an die Niedersächsischen Verwaltungsblätter richten, obwohl ich selbst der Redaktion angehöre. Für die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs nämlich hätte sich ohne die Verwaltungsblätter ein Publikationsproblem ergeben, denn die landesspezifischen Probleme finden nicht immer die Aufmerksamkeit der einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte, die jährlich erscheinen, kommen naturgemäß zu spät und haben nur eine geringe Ausstrahlung in die Öffentlichkeit. Insofern erweisen sich die Niedersächsischen Verwaltungsblätter als unentbehrlich, um die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs einem größeren Interessentenkreis zugänglich zu machen.
Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle, dass die Niedersächsischen Verwaltungsblätter zum 50jährigen Bestehen des Staatsgerichtshofs im Jahr 2005 ein Sonderheft herausgebracht haben, von dem noch eine Reihe von Exemplaren vorhanden sind, die ich Ihnen zur Verfügung stelle. Überdies sei bereits heute angekündigt, dass aus Anlass der Konferenz der Präsidenten der Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder im Jahr 2010, deren Gastgeber das Land Niedersachsen ist, wiederum ein Heft mit Beiträgen zur Verfassungsgerichtsbarkeit erscheinen wird.
Professor Dr. Jörn Ipsen
Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs
Artikel-Informationen
erstellt am:
23.11.2009
zuletzt aktualisiert am:
17.05.2010