Die Stellung des Staatsgerichtshofs
Im Rahmen der Vorgaben des Grundgesetzes (Art. 28 sowie Art. 1 Abs. 3, Art. 31, Art. 100 Abs. 1 und 3 und Art. 142 GG) ordnen die Länder ihre Verfassungsangelegenheiten und damit auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit eigenständig. Dies folgt aus ihrer Eigenstaatlichkeit und ihrer Verfassungsautonomie. Heute gibt es in allen Bundesländern Landesverfassungsgerichte, auch wenn das Grundgesetz sie nicht zwingend fordert, wie sich aus Art. 99 GG ergibt. Es setzt die Landesverfassungsgerichte in Art. 100 Abs. 1 und 3 GG aber ausdrücklich voraus.
Niedersachsen hat sich bereits in seiner Vorläufigen Verfassung vom 13. April 1951 (Art. 41) für die Errichtung eines eigenen Verfassungsgerichts, des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, entschieden. Nach der Wiedervereinigung trat die neue Niedersächsische Verfassung (NV) 1993 in Kraft, das neue Staatsgerichtshofgesetz (NStGHG) folgte im Jahre 1996. Nach dem Vorbild der Regelungen in der Bundesverfassung (Art. 93 und 94 GG) wurde auch in der NV eine Regelung in zwei Artikeln, nämlich in Art. 54 (Zuständigkeit) und Art. 55 (Verfassung und Verfahren), gewählt.
Der Niedersächsische Staatsgerichtshof ist sowohl Gericht als auch Verfassungsorgan. Anders als in vielen Bundesländern bestimmt dies die Niedersächsischen Verfassung nicht ausdrücklich. Es ergibt sich aber aus den Einzelregelungen zum Niedersächsischen Staatsgerichtshof in Art. 54 und 55 NV sowie § 1 Abs. 1 NStGHG. Die Niedersächsische Verfassung regelt die Stellung des Gerichtshofes und seine Kompetenzen im 6. Abschnitt, der der Rechtsprechung gewidmet ist. § 1 Abs. 1 NStGHG bezeichnet den Staatsgerichtshof explizit als ein den anderen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiges und unabhängiges Gericht. Als solches genießt der Staatsgerichtshof die richterliche Unabhängigkeit, was in § 1 Abs. 1 NStGHG mit der Formulierung „unabhängiges Gericht“ betont wird. Aus dem Wort „anderen“ ist zu entnehmen, dass der Staatsgerichtshof als das ranghöchste Gericht Niedersachsens Teil der rechtsprechenden Gewalt ist. Der Gerichtshof ist allerdings kein „Superrevisionsgericht“. Seine Zuständigkeiten ergeben sich enumerativ aus Art. 54 NV, der im Gegensatz zu anderen Gerichten keine Generalklausel enthält.
Der Staatsgerichtshof ist aber auch Verfassungsorgan, denn er hat einen Großteil seiner Kompetenzen direkt durch die Verfassung zugewiesen bekommen. Aus dem Status folgt, dass der Staatsgerichtshof keinem Ministerium zugeordnet ist, dass er über eine eigene Haushaltsplanung verfügt, Personalbefugnisse besitzt und in der inneren Organisation autonom ist.
Die Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs liegen auf der Ebene der Staatsleitung. Er soll die Beachtung der Verfassung durch die anderen Verfassungsorgane sichern, wird aber nur auf Antrag tätig. Seine Entscheidungen binden Landtag und Landesregierung sowie alle Gerichte und Behörden des Landes. Sie haben Gesetzeskraft, soweit sie Landesrecht für nichtig oder mit der Landesverfassung unvereinbar erklären.
Der Niedersächsische Staatsgerichtshof steht selbständig neben dem Bundesverfassungsgericht. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung die Selbständigkeit der Landesverfassungsgerichte herausgestellt und betont, dass sie in ihrem Rechtskreis die Funktion als oberster Hüter des Rechts erfüllen und zur letztverbindlichen Auslegung der Landesverfassung berufen sind. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Landesgesetzes sei deshalb grundsätzlich Aufgabe der Landesverfassungsgerichte.
Der Niedersächsische Staatsgerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheiden unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen und nach unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben. Gleiches gilt gegenüber dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der Niedersächsische Staatsgerichtshof ist aber, wie jedes andere Gericht, berechtigt bzw. gegebenenfalls verpflichtet, eine Auslegungsfrage dem EuGH vorzulegen.