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Abschiedsrede des scheidenden Präsidenten Prof. Dr. Jörn Ipsen

Abschiedsrede

des Präsidenten des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs Professor Dr. Jörn Ipsen

vor dem Plenum des Niedersächsischen Landtags am 17. April 2013

Am 27. Januar 2007 habe ich meine Antrittsrede als Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs gehalten. Wie seinerzeit darf ich auch heute sagen, dass es für mich eine große Ehre ist, sechs Jahre später wiederum vor dem Parlament des Landes zu sprechen, dem ich mich durch Geburt, berufliche und zuletzt auch richterliche Tätigkeit so eng verbunden fühle. Eine Abschiedsrede könnte dazu veranlassen, die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs während der letzten sechs Jahre Revue passieren zu lassen, um damit die Weisheit und Umsicht des Gerichts unter Beweis zu stellen. Ich möchte dieser Versuchung widerstehen, weil Richter durch ihre Urteile, nicht über ihre Urteile sprechen sollen. Stattdessen will ich mich – in aller Kürze – Grundfragen widmen, die sich stets im Verhältnis von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit stellen.

Politik und Recht sind unterschiedliche Pole der Sozialgestaltung. Der Politik ist eigen, dass sie Gemeinwohlentwürfe verfolgt, die aus den Bedürfnissen der Bevölkerung heraus entwickelt werden, rechtlich aber nicht vorgegeben sind. Selbst so wichtige Staatszielbestimmungen wie der Umweltschutz oder das Sozialstaatsprinzip zeigen nur eine grobe Richtung an und bedürfen der Umsetzung durch das Parlamentsgesetz.

Politik ist der Kampf um Macht und Machterhalt. Es wäre naiv zu meinen, dass die politischen Parteien nur hehre Gemeinwohlziele verfolgen und ihnen gewissermaßen zufällig die Instrumente hierfür gegeben werden, diese auch zu erreichen. Es ist deshalb vollkommen legitim, dass im Wettbewerb der Parteien auch mit härteren Bandagen gekämpft wird. Allerdings sei an dieser Stelle sogleich bemerkt, dass der zurückliegende Wahlkampf in Niedersachsen von einer bemerkenswerten Fairness gekennzeichnet war.

Die Bühne des politischen Wettbewerbs – um hier den Begriff des Kampfes zu vermeiden – ist in einer parlamentarischen Demokratie naturgemäß das Parlament. Ich habe bei zahlreichen Besuchen des Hohen Hauses stets die Disziplin und das Niveau der Plenardebatten beobachten können. Wie Sie alle wissen, hat der Parlamentarismus in Deutschland – anders als etwa in Großbritannien – keine ruhmvolle Geschichte; nach Gründung der Bundesrepublik mussten erst – mit einem Wort von Michael Stolleis – „Lehrjahre der Demokratie“ folgen. Hierzu gehört die Einsicht, dass die Plenardebatte nicht zu allererst der Meinungsbildung, sondern der Meinungsäußerung dient. Zu den bekannten Stereotypen der Parlamentskritik – etwa von Carl Schmitt – gehört die Behauptung, der Parlamentarismus habe die ihm früher eigenen Merkmale der Diskussion und Öffentlichkeit eingebüßt. Dies ist unzutreffend, weil die Parlamentsdebatten der jüngeren Geschichte regelmäßig der Darstellung unterschiedlicher Positionen dienten und nicht etwa das Ziel verfolgten, überhaupt erst eine Mehrheitsmeinung herzustellen. Was die Öffentlichkeit angeht, gibt es in unserem Medien- und Informationszeitalter ganz ungeahnte Möglichkeiten der Verbreitung, die auch einem Landesparlament offenstehen.

Der politische Prozess bedarf allerdings der Regeln, die innerhalb des Landtags – wie ich vielfach beobachten konnte – strikt eingehalten werden. In den Plenarsitzungen wacht der Sitzungsvorstand über die Einhaltung der Geschäftsordnung und trägt damit die Verantwortung dafür, dass die Fraktionen trotz ihrer politischen Gegensätze und der nicht selten leidenschaftlich geführten Debatten sich auf einer gemeinsamen Basis wiederfinden. Die Geschäftsordnung des Landtags stellt bekanntlich nur Innenrecht dar, gilt also nicht außerhalb des Parlaments und insbesondere nicht für die Beziehungen der Staatsorgane untereinander.

Die Grundlagen des staatlichen Lebens, die Konstituierung der Staatsorgane und die Abgrenzung ihrer Kompetenzen finden sich in der Verfassung. Das Land Niedersachsen hat mit der Verfassung vom 13. Mai 1993 nach mehr als vierzigjähriger Geltung der „Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung“ endlich eine „Vollverfassung“ erhalten. Verfassungen unterscheiden sich von einfachen Gesetzen nicht nur in ihrem Regelungsgegenstand, sondern auch durch ihre Sprache, die dem besonderen Rang der in ihr enthaltenen Rechtssätze entspricht. Verfassungsbestimmungen bedürfen deshalb nicht selten der Auslegung und es entspricht aller Erfahrung, dass es hierbei unterschiedliche Auffassungen geben kann. Die Verfassung vermag ihre Aufgabe als Regelungswerk des politischen Prozesses indes nur zu erfüllen, wenn eine Instanz besteht, die im Streitfalle die Verfassung mit Bindungswirkung für alle Staatsorgane auslegt.

An dieser Stelle ist der Bogen zur Verfassungsgerichtsbarkeit – und damit zum Staatsgerichtshof – zu schlagen. Nicht nur der Bund hat ein Bundesverfassungsgericht, auch alle Bundesländer verfügen über eigene Landesverfassungsgerichte.

Die Verfassungsgerichte stehen unausweichlich im Schnittpunkt von Recht und Politik; ihre Entscheidungen sind stets von weittragender politischer Bedeutung – gleichgültig, wie sie ausfallen. Nicht selten werden deshalb an Entscheidungen und an die an den Entscheidungen beteiligten Personen bestimmte Erwartungen gestellt. Solche Erwartungen gehen von einem unzutreffenden Verständnis des verfassungsgerichtlichen Entscheidungsprozesses aus. In den Beratungen kommt es stets auf Argumente an, nicht auf politische – oder gar parteipolitische – Positionen. Der Entscheidungsprozess in Verfassungsgerichten unterscheidet sich deshalb grundlegend von dem in anderen Kollegialorganen – etwa Parlamentsausschüssen –, in denen das schließliche Abstimmungsergebnis nicht selten nur begründet, aber nicht gebildet wird. Als Bilanz meiner über sechsjährigen Tätigkeit als Präsident des Staatsgerichtshofs darf ich nicht ohne Stolz vermelden, dass die Entscheidungen stets einvernehmlich getroffen worden sind, wofür als äußeres Zeichen gelten mag, dass es zu keinem Minderheitsvotum gekommen ist.

Die Entscheidungsbefugnisse des Staatsgerichtshofes sind – wie die aller anderen Verfassungsgerichte – einzeln aufgezählt und damit begrenzt. Erinnert sei daran, dass bis zum Inkrafttreten der Niedersächsischen Verfassung am 1. Juni 1993 nur das Normenkontrollverfahren und die Organstreitigkeit praktische Bedeutung erlangten, was dazu führte, dass der Staatsgerichtshof in den bekannten – jahrelangen – „Dornröschenschlaf“ verfiel, weil keine Verfahren anhängig waren. Mit Inkrafttreten der Niedersächsischen Verfassung änderte sich diese Situation schlagartig, weil die kommunale Verfassungsbeschwerde eingeführt wurde und kommunale Gebietskörperschaften gegen Einschränkungen ihrer Selbstverwaltungsgarantie durch Landesgesetze nicht mehr das Bundesverfassungsgericht anrufen konnten. Die kommunale Verfassungsbeschwerde stellt mittlerweile zahlenmäßig die stärkste Verfahrensart dar; auch gegenwärtig sind elf Verfassungsbeschwerden anhängig, über die der Staatsgerichtshof am 29. April entscheiden wird.

Nicht statthaft ist dagegen die Individualverfassungsbeschwerde, mit anderen Worten kann sich der Bürger nicht direkt an den Staatsgerichtshof mit der Behauptung wenden, er sei in seinen Grundrechten verletzt. Ich habe in meiner Antrittsrede am 27. Januar 2007 zugesagt, mich öffentlicher Äußerungen zur Problematik der Verfassungsbeschwerde zu enthalten. Im Staatsgerichtshof selbst bestanden unterschiedliche Meinungen über die Sinnhaftigkeit einer Landesverfassungsbeschwerde und ich habe vermeiden wollen, dass öffentliche Äußerungen von mir als Auffassung des Staatsgerichtshofs insgesamt gewertet würden.

Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich kurz vor Ende meiner Amtszeit diese Zurückhaltung aufgebe und meine Abschiedsrede zu einem Plädoyer für die Einführung einer Landesverfassungsbeschwerde benutze. Vorweg sei bemerkt, dass es hierzu nur eines einfachen Gesetzes – nämlich der Ergänzung des Gesetzes über den Staatsgerichtshof – bedarf. Nach Art. 54 Nr. 6 der Niedersächsischen Verfassung entscheidet der Staatsgerichtshof – auch – „in den übrigen ihm durch diese Verfassung oder durch Gesetz zugewiesenen Fällen“. Es bedarf also keiner Verfassungsänderung, um die Bürgerverfassungsbeschwerde einzuführen.

Zehn der sechzehn Landesverfassungen kennen die Verfassungsbeschwerde und verfügen hierbei – so Bayern und Hessen – über eine jahrzehntelange Tradition. In Baden-Württemberg ist ein Gesetzgebungsverfahren zur Einführung der Verfassungsbeschwerde eingeleitet worden. Die Hamburger Verfassung enthält keine Grundrechte, sodass eine Verfassungsbeschwerde hier nicht in Betracht kommt. Übrig bleiben als Länder ohne Verfassungsbeschwerde deshalb nur Bremen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Bremen und Schleswig-Holstein sehen erwartungsvoll auf Niedersachsen – wie mir vielfach bestätigt worden ist. Nur Nordrhein-Westfalen verstand sich bislang als eine Art Bollwerk gegen die Einführung der Landesverfassungsbeschwerde.

Ich kann an dieser Stelle nicht alle Argumente für und wider ihrer Einführung vortragen, gehe indessen von der Prämisse aus, dass einer Verfassung, die Grundrechte gewährleistet – sei es auch im Wege der Inkorporation der Grundrechte des Grundgesetzes – ein Rechtsbehelf entspricht, die Verletzung dieser Grundrechte geltend zu machen. Nicht überzeugend ist das vielfach gehörte Argument, die Einführung einer Landesverfassungsbeschwerde würde die Ehrenamtlichkeit in der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frage stellen. Sämtliche Landesverfassungsgerichte folgen dem Prinzip der Ehrenamtlichkeit und es ist bislang nicht bekannt geworden, dass sie dem Geschäftsanfall an Verfassungsbeschwerden nicht gerecht geworden wären. Untauglich ist letztlich auch das Kostenargument, denn schon jetzt kann der Staatsgerichtshof zur Unterstützung seiner Arbeit Richter im Landesdienst anfordern. Dieses Modell würde sich auch für die Bearbeitung von Verfassungsbeschwerden eignen.

Ein entscheidendes Argument für die Landesverfassungsbeschwerde besteht darin, dass Landesgesetze und ihr Vollzug vielfach einen so stark regionalen oder auch örtlichen Bezug haben, dass für entsprechende Rechtsstreitigkeiten die Landesverfassungsgerichte schlechthin geeigneter sind als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Sie mögen mir als Prognose gestatten, dass durch die Einführung der Landesverfassungsbeschwerde auch die Eigenstaatlichkeit des Landes gestärkt würde; denn Bundesländer sind Gliedstaaten der Bundesrepublik und nicht lediglich Verwaltungsuntergliederungen. Insofern weist die Individualverfassungsbeschwerde in den Bundesländern auch auf ein größeres Landesbewusstsein hin. Ich habe allerdings feststellen müssen, dass die Verfassungsbeschwerde nicht auf der Agenda der neuen Landesregierung steht. Nun stehe ich nicht an, der Regierung in dieser Stunde Ratschläge zu erteilen; denn über ihre Einführung zu debattieren und letztlich zu entscheiden, ist allein Aufgabe des Landtags.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Artikel-Informationen

erstellt am:
17.04.2013

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